Demokratie ist ein Prozess, nicht einfach ein Zustand

Vor der Abreise Richtung Europa-Parlament durfte ich heute Früh die Konferenz im Haus der Europäischen Union in Wien unter dem Titel „Democracy Is (No!) Fiction“ eröffnen. Die Konferenz wird vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) ausgerichtet.

„Der moderne Staat beruht auf Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann“, sagte der Rechtsphilosoph und Verfassungsjurist Ernst Wolfgang Böckenförde. Dieses auch als „Böckenförde-Diktum“ bekannte Zitat ist für mich auch die Grundlage dieser Konferenz.

Denn wir leben in Zeiten, in denen unter dem schockierenden Titel der „illiberalen Demokratie“ versucht wird, eine Art „Demokratie-Ersatz“ zu schaffen, der sich als Demokratie präsentiert und sich auch für möglichst viele Menschen so anfühlen soll, den aber die Voraussetzungen fehlen, derer eine Demokratie bedarf.

Dazu gehören nicht nur Gewissens-, Gedanken-, Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit, sondern auch die ausgiebige Verwirklichung dieser Freiheiten und deren Verteidigung

  • durch Diskurs zu grundsätzlichen Fragen auch schon in den Familien und Schulen;
  • durch Interesse an Fakten und Wissenschaft als Grundlage für echte Meinungsbildung;
  • durch das Aussprechen der eigenen Gedanken auf möglichst allen Kanälen, gepaart mit ehrlichen Zuhören, wenn andere Menschen sprechen;
  • durch Respekt für Journalismus
  • und mehr.

So wird die liberale Demokratie verteidigt. – Da wir in Zeiten leben, in denen Wahlen vielfach belächelt oder sogar als Ärgernis empfunden werden, sei auch hier erwähnt, was ich auch in meiner Eröffnungsrede gesagt habe: Demokratie zeichnet sich laut dem großen Philosophen Sir Karl Popper dadurch aus, dass man Regierungen abwählen kann, dass es einen friedlichen, demokratischen Wechsel geben kann – das gilt nicht nur für Regierungen, sondern für jedes gewählte Amt. Und es erinnert uns daran, dass der Zeitfaktor untrennbar mit der Demokratie verbunden ist. Würde es nur eine einzige demokratische Entscheidung geben, und dann nie wieder eine Wahl, würde die gesamte Sache zur Farce verkommen. Deshalb sind Momentaufnahmen – noch dazu, wenn sie ohne Inhalt und ohne Verbindlichkeit stattfinden, wie etwa beim Brexit – aus demokratiepolitischer Sicht sehr kritisch zu beurteilen.

Der Parlamentarismus gehört zur Demokratie logisch dazu. Sonst ist das „Volk“, was wörtlich im Begriff der Demokratie steckt, nicht vertreten. Und ganz nach Popper gilt, dass Parlamentarismus dafür sorgt, dass die Vertretung in der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierungen für Andere (nicht für einen selbst) zu vollziehen ist, und dass der Zeitfaktor dafür sorgt, dass Parlamente regelmäßig erneuert werden. Auch das habe ich heute in der Eröffnungsrede erwähnt. Ich halte den Parlamentarismus für eine der großen Erfindungen der Menschheit. Wie der Buchdruck oder der elektrische Strom technologische Innovationen sind, ist der Parlamentarismus eine soziale und politische Innovation. Nützen wir ihn!

13. Jänner 2020 Blog

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