EU-Kommission: Entscheidende Momente schon nach 100 Tagen im Amt

Nun ist sie schon 100 Tage im Amt – die neue EU-Kommission unter der Führung von Ursula von der Leyen.

Hier ein paar Gedanken aus diesem Anlass:

  • Die parlamentarische Aufgabe ist, die Verwaltung und deren politische Führung zu beauftragen, Schwerpunkte zu vermitteln, zu kontrollieren, Verbesserungswürdiges zu kritisieren, Positives zu vertiefen. – Ich erwähne das deshalb extra, weil es falsch wäre, anzunehmen, wenn meine Einschätzung der ersten 100 Tage der neuen EU-Kommission eher positiv ausfällt, dann würde das daran liegen, dass die Kommissionspräsidentin derselben Parteienfamilie entstammt wie ich. Daran liegt es nicht. Das gilt besonders für die parlamentarische Arbeit auf der europäischen Ebene.
  • Außerdem ist es so, dass ich Von der Leyen Anfang Juli nicht mit dem sprichwörtlichen „flammenden Herzen“ gewählt habe, sondern mit der ebenso sprichwörtlichen „Faust in der Hosentasche“. – Das lag damals nicht so sehr an ihrem Profil als Kandidatin, sondern am Prozess, der dem Parlamentarismus im Allgemeinen und dem Ergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament im Besonderen Hohn gesprochen hat. Von der Leyen war nicht zur Wahl gestanden. Sie wurde den gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Europäerinnen und Europäer von einer kleinen Minderheit mitgliedsstaatlicher Regierungen „vor die Nase gesetzt“, sprichwörtlich, versteht sich. Mit nur acht Stimmen Überhang – was kaum mehr als einem (1) Prozent der Europa-Abgeordneten entspricht – wurde Von der Leyen auch denkbar knapp gewählt. Aber: Zum Glück wurde sie gewählt, wie ich in den folgenden Absätzen ausführen möchte.
  • Die erste Mammutaufgabe war, dem Europäischen Parlament einen Vorschlag für ein Kommissions-Kollegium vorzulegen, das in der Ressortverteilung den Kriterien der Ausgewogenheit zwischen Frauen und Männern ebenso wie jenen der Ausgewogenheit zwischen Ost- und Westeuropa entspricht. – Ursula Von der Leyen ist das mit Bravour gelungen. Ersteres ist heute glücklicherweise sowieso obligatorisch, Zweiteres scheint mir besonders wichtig zu sein, weil ich in der täglichen Arbeit erlebe, dass eine gewisse Überheblichkeit aus Westeuropa Richtung Osteuropa noch immer nicht ganz überwunden ist. Das schadet dem Miteinander im geeinten Europa enorm. Nun führen Kommissionsmitglieder aus osteuropäischen Mitgliedsstaaten maßgebliche Ressorts, und das ist gut so.
  • Für jene Kandidatinnen und Kandidaten, die wir im Europa-Parlament nicht „durchgelassen“ haben, hatte Von der Leyen gute Ersatzkandidatinnen und -kandidaten parat. Das ist deshalb nicht selbstverständlich, weil wir nach der alten – zu überwindenden! – Regelung aus jedem Mitgliedsstaat ein Kommissionsmitglied haben müssen. Von der Leyen hatte aber so vorgesorgt, dass durch den parlamentarisch erzwungenen Austausch von „Karten“ nicht das gesamte „Kartenhaus“ in sich zusammengefallen ist.
  • Die neue Kommissionspräsidentin hat allen Kommissionsmitgliedern „Mission Letters“ geschrieben. Diese sind öffentlich und umreißen unmissverständlich ein Programm, das nicht nur ambitioniert ist, sondern meines Erachtens im Großen und Ganzen auch die richtigen Schwerpunkte setzt. Von der Leyen will unnötige Regelungen und Bürokratie innerhalb der EU zurückschrauben. Und sie möchte wörtlich „die erste geopolitische Kommission“ führen. Beides entspricht meinem seit Jahren vertieften europapolitischen Credo, dass wir eine Europäische Union mit mehr Stärke nach außen und mehr Freiheit nach innen brauchen.
  • Der dringenden und wichtigen Deregulierung stehen Begriffe auf der Kommissionsagenda wie jener einer „Arbeitslosenrückversicherung“, die in Wahrheit ein extra Finanzausgleichinstrument zum Geldtransfer von Nettozahler- zu Nettoempfängermitgliedsstaaten sein soll, oder des „Europäischen Mindestlohns“, der im Vergleich beispielsweise zum funktionierenden Kollektivvertragssystem in Österreich ein völlig falscher Schritt wäre, entgegen. Hier arbeite ich parlamentarisch für mehr Freiheit und Kostenwahrheit. Und ich setze mich parlamentarisch dafür ein, dass bei „Entsendungen“, also Dienstreisen oder „Montage-Aufenthalten“ die extra EU-Bürokratie, die zahlreichen Betrieben und arbeitenden Menschen zu schaffen macht, zurückgeschraubt wird. Die Kommission braucht bei aller positiven Gesamtbeurteilung die parlamentarische Kontrolle und Anleitung.
  • Das gilt auch für die Stärke Europas nach außen: Wichtig ist, dass die Kommissionspräsidentin nicht nur Josep Borrell als Außenkommissar – und gleichzeitig Außenbeauftragten des Rates – in seinen Agenden nach außen ausrichtet, sondern dass es einen „Außenpolitik-Cluster“ gibt, dem etwa auch die Kommissionsmitglieder für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit, den „European Way Of Life“ sowie für den Außenhandel zuzuordnen sind. Europa hat auf der Welt einfach noch nicht jene Stellung, die ihm aufgrund seiner Größe, seiner Wirtschaftskraft, seines Beitrags zur globalen Entwicklung und seiner über Jahrzehnte hart erarbeiteten Pionierrolle in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die täglich neu verteidigt werden muss, zukommt. Das schwächt uns als Europäerinnen und Europäer tagtäglich in unserer Sicherheit und unseren Chancen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Kommission sich als „geopolitisch“ versteht, und dass Von der Leyen an mehrere Kommissionsmitglieder in ihren Mission Letters klare Aufträge verteilt hat:
  • So soll sich Borrell maßgeblich um die Vertiefung der gemeinsamen Verteidigungspolitik kümmern. Wenn man bedenkt, wie viel an Arbeitsplätzen, Forschungserfolgen, damit zivilem und wirtschaftlichem Nutzen, daran hängt, dass die Verteidigungsausgaben koordiniert werden und Investitionen innerhalb Europas getätigt werden; wenn man darüber hinaus bedenkt, dass das, was in der Fachsprache „strategische Autonomie“ genannt wird, früher oder später für unsere Sicherheit und unser europäisches Lebensmodell essentiell sein wird; dann wird klar, wie wichtig etwa der Verteidigungsfonds, der im neuenEU-Finanzrahmen erstmals enthalten sein wird, oder die „Permanent Structured Cooperation“ (PESCO) sind; und dass ein Kommissionsmitglied sich maßgeblich darum kümmern muss.
  • Wir haben das Vereinigte Königreich verloren. Das schwächt das Vereinigte Königreich, aber natürlich auch die EU der 27 Mitgliedsstaaten. Wir arbeiten an einem guten Abkommen für die Zeit nach dem Austritt. Das wird zweifellos zu jenen Eckpunkten gehören, an denen die aktuelle Kommission eines Tages zu messen sein wird. Nicht minder wird das auch die Westbalkan-Politik sein. Dass Europa dort gleichsam offen ist für Einflüsse aus anderen Teilen der Welt, dass die Menschen der sechs Westbalkan-Staaten, die sich ganz klar als Europäerinnen und Europäer begreifen und auch so leben, noch immer vor den Toren der EU warten müssen und alle paar Wochen (trotz der Erfüllung vorher definierter) Kriterien mit immer neuen politischen Begründungen vertröstet werden, statt in einen forcierten Prozess, der gleichermaßen fordernd und fördernd wäre – gebracht zu werden, ist die „Achillesferse“ Europas in unserer Zeit. Die Kommission muss daher mit Priorität und unter Einsatz ihres gesamten politischen Gewichts die kleine Minderheit an mitgliedsstaatlichen Regierungen, die der „Heilung“ dieser „Achillesferse“ entgegen stehen, zu einer für uns Europäerinnen und Europäer zukunftsorientierten Ausrichtung überzeugen. Es wäre verheerend, nach dem Vereinigten Königreich auch noch die Westbalkan-Staaten zu verlieren, noch bevor sie überhaupt formal Mitgliedsstaaten werden. Mein Eindruck aus den bisherigen Gesprächen ist, dass Von der Leyen darauf durchaus Wert legt und dass der zuständige Kommissar Olivér Várhelyi sehr professionell agiert. Ich bleibe dahinter.
  • Dringend und wichtig ist auch die Neukonstituierung des „Association Council“ mit Israel sowie die Neufassung des in die Jahre gekommenen „Association Agreement“ mit Israel. Der einzige jüdische Staat der Welt ist gleichzeitig unser einziger Verbündeter in Nahost, wenn es um europäische Werte wie jene der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit geht. Außerdem erleben wir nicht nur kräftige Innovationsimpulse aus Israel, die für Wirtschaft und Arbeitsplätze entscheidend sind, sondern auch einen unverzichtbaren Beitrag zum Sicherheitsnetz in Nahost und Nordafrika, von dem wir Europäerinnen und Europäer täglich profitieren. Mir ist die Schwerpunktsetzung der neuen EU-Kommission hier noch zu schwach, aber ich arbeite von parlamentarischer Seite beharrlich an dieser Priorität und habe den Eindruck, auf offene Ohren zu stoßen.
  • Seit ihrem Amtsantritt widmet sich Ursula von der Leyen dem Klimawandel. Sie tut damit das, was eine große Mehrheit der Europäerinnen und Europäer von ihr erwartet. Sie behandelt das als „Chefinsache“ und das ist gut so. Ihr ist klar, dass Europa dem Klimawandel nicht alleine begegnen wird, sondern auch hier Stärke nach außen braucht, um andere Teile der Welt auf diesen Weg mitzunehmen. Und: Ursula von der Leyen hat seriöserweise einen gesamthaften „New Green Deal“ aufgesetzt, und hält damit die Balance, um nicht Arbeitsplätze und Lebenschancen zu gefährden, sondern durch Innovation, neue Technologien und Chancen der Digitalisierung für den menschlichen Alltag Win-Win-Szenarien zu schaffen.
  • Klar braucht die EU auch eine Strukturreform, am besten einen neuen EU-Vertrag, der den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen gerecht wird. Die EU-Kommission muss hier gleichsam Pate stehen und den Prozess vorantreiben, damit die Mitgliedsstaaten sich bewegen. Hier sehe ich noch zu wenig Ambition seitens der Kommission. Was nicht ist, muss noch werden.
  • Als Österreicher, der im Eurooa-Parlament nach dem Motto „Rot-Weiß-Rot in Europa“ arbeitet, möchte ich erwähnen, dass es etwas Besonderes für unser Land ist, dass mit Johannes Hahn ein Landsmann das längstdienende Kommissionsmitglied ist, in der Kommission die Kommissarinnen und Kommissare unserer Fraktion und Parteienfamilie koordiniert, und ein sehr wichtiges Ressort verantwortet. Klar vertritt ein Kommissionsmitglied per definitionem nicht die Bürgerinnen und Bürger seines Mitgliedsstaates, wie das eine Parlamentarierin oder ein Parlamentarier tut, aber freuen darf man sich als Österreicher über einen super Kommissar aus unserem Land, und auch für die EU über einen der in Arbeit und Wesen angenehmsten Menschen, die ich in der Politik kenne.
  • Viele der wirklich entscheidenden Momente einer politischen Amtsführung kann man kaum oder gar nicht planen. Was etwa Von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker im Gespräch mit US-Präsident Donald Trump geleistet hat, um die schlimmsten Handelskrieg-Szenarien zwischen den USA und der EU zu verhindern, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, und es hätte zu Beginn von Junckers Amtszeit unmöglich geplant werden können. – Heute empfängt Ursula Von der Leyen den Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan. Ob und wann Erdoğan wortbrüchig und vom Migrationspakt abweichen würde, war kaum zu planen gewesen. Aber vielleicht erweist sich für die Zukunft Europas der Umgang mit der Attacke, die die Inszenierung einer Krise an unseren Außengrenzen durch die türkische Führung de facto ist, als eine der größten entscheidenden Herausforderungen der Kommission unter Ursula von der Leyen. In diese Kategorie könnte auch der Umgang mit allen Verwerfungen rund um das Corona-Virus – auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, nicht nur die gesundheitlichen – fallen.

9. März 2020 Blog

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