Vor ein paar Jahren erzählte mir ein jüdischer Freund, der in der Studierenden-Vertretung aktiv war, dass bei der Gründung einer Arbeitsgruppe gegen Antisemitismus sofort seine gesamte Gruppe der Meinung war, es sei doch klar, dass er für diese Gruppe nominiert werden sollte.
Mein Freund konnte damals ein Missverständnis aufklären, das heute noch weit verbreitet ist: nämlich jenes, dass die Bekämpfung von Antisemitismus primär ein Thema jüdischer Menschen sei.
Vielmehr muss es aber ein Anliegen aller Menschen sein, denen beispielsweise Menschenwürde, Freiheitsrechte, ein gutes gesellschaftliches Miteinander wichtig sind. Und das sollten fast alle Menschen in Europa sein, zumindest wenn Bildung und Herzensbildung in Schulen und Elternhäusern einigermaßen funktionieren.
Antisemitismus ist eine gesellschaftliche „Krankheit“, die ganze Gesellschaften zersetzen kann, wie Geschichte und Gegenwart in fürchterlicher Art und Weise zeigen.
Umso erschütternder ist es, dass ausgerechnet in unserer Zeit antisemitisches Denken im Ansteigen begriffen sind – und zwar online genauso wie offline, im Gedankengut und auch in konkreten Aktionen. Hier finden sich die Zahlen in den Daten der Grundrechtsagentur dazu. Am Freitag dieser Woche besuche ich die Expertinnen und Experten der Grundrechtsagentur daheim in Wien.
Es ist daher wichtig, dass das Europa-Parlament heute den Kampf gegen den Antisemitismus debattiert.
Konkret geht es nicht um punktuelle Aktivitäten, sondern um wachsendes Verständnis für die Gesamtsituation und die Positionierung von uns Europäerinnen und Europäern, nämlich
- gegen Antisemitismus in allen seinen Erscheinungsformen; in Worten, aber auch in Taten, wenn es um Bildung oder Medien geht, um Sicherheitskräfte oder Zivilgesellschaft, oder andere Gesellschaftsbereiche
- für jüdisches Leben in Europa – und zwar nicht einfach „geduldetes“, „toleriertes“ jüdisches Leben, sondern jüdisches Leben, das sich in all seinem Facettenreichtum entfalten kann: in Sicherheit und unbeschwert
- als Europäische Union klar an der Seite Israels, weil dieser einzige jüdische Staat der Welt auch die einzige rechtsstaatliche Demokratie in Nahost ist, weil es in unserem ureigensten Interesse ist, zu kooperieren: für unsere Sicherheit, aber auch für Freiheit und Zukunftschancen
Das Europa-Parlament und auch der Europäische Rat haben in der Vorperiode eine klare Definition von Antisemitismus verabschiedet. Das war und ist wichtig, damit es schwieriger wird, Antisemitismus zu verharmlosen, wenn er in dieser oder jener Form auftritt:
- Sowohl der uralte, hässliche Antisemitismus typisch europäischer Prägung, der sich besonders durch nationalsozialistische Verbrecher aus Österreicher und Deutschland besonders grausam ausgewirkt hat, ist von dieser Definition umfasst.
- Die Definition umfasst außerdem den Antisemitismus jener Prägung, der durch Migration nach Europa kommt und durch das Entstehen von Parallelgesellschaften noch verstärkt werden kann.
- Und die Definition erkennt auch den Antizionismus als Form des Antisemitismus – also die Infragestellung des Existenzrechts des Staates Israel, schärfere Standards gegenüber Israel als gegenüber anderen Staaten und dergleichen mehr.
Durch verschiedene Jahrestage – etwa den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, den internationalen Holocaust-Gedenktag – ist zum Ausdruck gekommen, dass fast alle Offiziellen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten der in der Shoa gequälten und ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer gedenken.
Das ist wichtig, das darf nie aufhören. Es ist eine zivilisatorische moralische Verpflichtung, die Opfer zu ehren und ihrer zu gedenken.
An das „Niemals vergessen!“ muss auch immer das „Niemals wieder!“ anknüpfen. Hier sind wir in der Tagespolitik gefordert, in Fragen, die uns auf den ersten Blick banal erscheinen, in denen es aber um die oben genannten Anliegen geht: dass jetzt und in Zukunft jüdische Menschen in Europa sicher und unbeschwert leben können, und dass die EU einen viel größeren Beitrag dazu leistet, dass weltweit Antisemitismus zurückgedrängt wird und Lebensgrundlagen für jüdische Menschen geschaffen werden.