Die großen Grundsätze haben Bedeutung für das praktische Handeln im Alltag. Das kann einem binnen Sekunden bewusst werden. So war es am Anfang dieser Sitzungswoche im Europa-Parlament, als Straßburg wie aus dem Nichts von einem Anschlag erschüttert wurde.
Noch am Montag Früh hatte ich im Haus der Europäischen Union daheim in Wien mit Schülerinnen und Schülern über die Menschenrechte diskutiert, anlässlich des internationalen Tages der Menschenrechte.
In der Diskussion haben wir ausgelotet, was es heißt, dass die Menschenrechte unveräußerlich sind; dass die Freiheit und die Würde zu jedem Menschen gehören, auch wenn sie noch so sehr in Frage gestellt werden sollten.
Am Montag Abend durfte ich dann Schülerinnen und Schüler aus Steyr sowie eine Gruppe der Landjugend (im Bild) begrüßen: im alten Rathaus der Stadt Straßburg. Die Jugendlichen hatten das von meinem Kollegen Paul Rübig organisierte Friedenslicht überbracht.
Dort erwähnte der Straßburger Stadtrat Michael Schmidt in seiner Rede Straßburg ausdrücklich als “Stadt des Humanismus”. In dieser Stadt war nun das Friedenslicht aus Bethlehem angekommen. Auch so kommen Freiheit und Menschenwürde zum Ausdruck.
“Es muss einer den Frieden beginnen wie den Krieg”, zitierte ich dort einen jener Sätze von Stefan Zweig, die für mich Gänsehaut-Charakter haben. Wir müssen den Frieden wirklich wollen, die extra Meile gehen, organisieren und – ja! – kämpfen für den Frieden!
Weniger als 24 Stunden später waren schöne Worte wie diese, die immer im Verdacht stehen, eher in Sonntagsreden oder auf billige Kalender mit Sinnsprüchen zu passen, relevant für den ganz konkreten Augenblick.
Es war Paul Rübig, der in einer Sitzung die “breaking news” zu Gehör gebracht hat, dass es zu einem Schussattentat in der Straßburger Innenstadt gekommen war. Ich habe gleich meine Frau Kristina informiert. “Pass auf Dich auf”, antwortete sie.
Recht schnell
* hat sich dann der Verdacht erhärtet, dass die Vorfälle einen terroristischen Hintergrund hätten;
* hatten die französischen Sicherheitsbehörden mit der Verwaltung des Europa-Parlaments entschieden, das Gebäude zu schließen,
* begann eine bange Wartezeit.
“Bange” musste mir in keinem Moment um uns hier sein – also unser Officeteam und mich. Wir waren in Sicherheit. Aber die Gedanken waren bei den Opfern und ihren Angehörigen, den Menschen in Ungewissheit über ihre Lieben, und bei den vielen Freunden und Bekannten, von denen wir wussten, dass sie sich “draußen” in Straßburg aufhielten.
Schnell hatte ich mich dessen vergewissert, dass die anderen 17 Abgeordneten Österreichs sowie deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sicherheit waren. Recht schnell war auch bekannt, dass der ORF-Korrespondent bei den EU-Institutionen, Peter Fritz, dem ich am selben Tag zu Mittag noch frohe Weihnachten gewünscht hatte, mitten im Geschehen war.
Die Gedanken kreisten also
* in erster Linie um die konkrete Situation rund um das Parlament,
* und in zweiter Linie um die anstehenden Entscheidungen zum Verhalten des größten demokratisch gewählten supranationalen Parlaments der Welt, das sich der Verteidigung von Freiheit, Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet sieht.
Ich habe daher klar unterstützt, dass die Debatte im Plenum des Europa-Parlaments wie geplant bis Mitternacht durchgezogen wird, dass das Parlament durch Arbeit und aufmerksame Präsenz sich nicht in seiner Handlungsfähigkeit einschränken lässt, dass die “Familie” gerade in der Krisensituation zusammensteht und zusammenhält.
Noch am Vormittag vor dem Anschlag hatte ich mit meinem Kollegen Heinz K. Becker, der als einziger Österreicher im Sonder-Ausschuss des Europa-Parlaments gegen Terrorismus vertreten ist, über die anstehenden Beschlüsse im Plenum des Europa-Parlaments zur besseren Terrorabwehr durch Polizeizusammenarbeit und Professionalisierung gesprochen.
Ausgerechnet nach der Anschlags-Nacht, die einige Abgeordnete zur Gänze im Europa-Parlament verbracht hatten, wurde dieser Terrorabwehr-Bericht des Europa-Parlaments verabschiedet. Unter anderem das darf man auch jenen Bürgerinnen und Bürgern antworten, die sich gerade jetzt kritisch zur Arbeit der gewählten Vertreterinnen und Vertreter äußern.
Vor allem aber gilt es, die Sorgen jener Bürgerinnen und Bürger, die wir hier vertreten, für die wir hier Dienstleistungen zu erbringen haben – schnell, professionell, mit Qualität und stets auskunftsfähig – nicht nur ernst nehmen, sondern uns voll zu eigen machen, zu teilen, voll und ganz verstehen. Wir sitzen im selben Boot! Das ist Europa.
Kein Teil der Welt vertritt und verteidigt die Menschenrechte so deutlich wie die Europäische Union. Das hatte ich am Montag Früh in der Diskussion mit den Schülerinnen und Schülern gesagt. Dass das so bleibt, ist ein hoher Anspruch an uns selbst. “Sine ira et studio” muss man angesichts dieser Woche in Straßburg aussprechen dürfen, was so oft polarisiert:
Ja, der moderne Staat braucht Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann (Böckenförde-Diktum). Ja, zu diesen Voraussetzungen gehört ein Grundverständnis von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, basierend auf jüdisch-christlichen oder humanistisch-aufgeklärten Werten, die in Wahrheit nicht zu trennen sind, sondern aufeinander aufbauen und ineinander greifen.
Ja, das muss Teil der öffentlichen und veröffentlichten Meinung sein, Teil des Bildungssystems und der Medien, der Kommunikation in der Familie, am Stammtisch und in den Social Media Kanälen. Ja, wir in der Politik haben eine besondere Verantwortung – ja, sogar eine verdammte Pflicht! – diese Werte zu verteidigen. Aber alle haben eine Mitverantwortung, durch unsere Haltung als Menschen, als Bürgerinnen und Bürger.
Ja, wir brauchen Sprachkurse und Wertekurse. Ja, wir müssen gesellschaftlich noch viel besser lernen, Religion von Ideologie zu unterscheiden; wir müssen ersteres in der grundrechtlich garantierten Freiheit schützen, zweiteres als gesellschaftlich dysfunktional beim Namen nennen und auszuschließen. Ja, wir müssen auch noch viel besser lernen, Provokationen gegen Freiheit und Rechtsstaat als solche zu erkennen und ihnen angemessen zu begegnen.
Ja, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es Kräfte auf dieser Welt gibt, denen Europas Sicherheit egal ist, die im Zeitalter der globalisierten Wirtschafts- und Arbeitsmärkte einem Konkurrenz-Modell anhängen (statt wie ich einem Kooperations-Modell), denen daher alles in den Kram passt, was uns schwächt oder gar gefährdet – von politischen Fehlentwicklungen wie dem Populismus und dem Zentralismus bis hin zu Verbrechen wie dem Terrorismus. Ja, wir dürfen nicht naiv sein gegenüber den Herausforderungen der Integration in unsere Gemeinschaft der Freiheit und des Rechts, die durch Demokratie und Gleichberechtigung Sicherheit und Wohlstand erst möglich macht, die daher höchst attraktiv auch für neue Mitglieder unserer Gesellschaften ist, wenn sie offen sind für diese Zusammenhänge, und wenn wir diese Zusammenhänge echt und glaubwürdig repräsentieren, indem wir sie leben.
Ja, wir sollten schön bescheiden bleiben. Wir dürfen den Generationen nach 1945 dankbar dafür sein, dass sie dieses Europa der Freiheit und des Friedens, der Chancen und des Wohlstands aufgebaut haben: Jetzt ist es an uns, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. “Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb’ es, um es zu besitzen”, wie Goethe schreibt. Falscher Stolz ist unangebracht: Ja, wir müssen mit dem Geschenk, das wir von den Generationen vor uns in der Gestalt des heutigen Europa bekommen haben, angemessen umgehen.
Ja, wir brauchen ein Europa, das nach außen viel stärker auftritt, und so einen Rahmen der Sicherheit bietet für die Entfaltung der Unionsbürgerinnen und -bürger in Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, damit in Frieden und Wohlstand.
Kurz vor den letzten Abstimmungen dieser Woche im Europa-Parlament danke ich noch ausdrücklich allen, die in den entscheidenden Stunden und Tagen in Straßburg empathisch und professionell für Sicherheit und Ordnung gesorgt haben: allen Einsatzkräften, allen helfenden Zivilpersonen, den politisch und behördlich Verantwortlichen auf allen Ebenen, den Medienvertreterinnen und -vertretern, allen seriösen Posterinnen und Postern in den Social Media Kanälen, allen Angehörigen des Europa-Parlaments und der Parlaments-Verwaltung, und ganz besonders den drei Mitgliedern unseres Officeteams, die ebenfalls in Straßburg waren und sind, die kühlen Kopf bewahrt und dafür gesorgt haben, dass die Arbeit punktgenau weitergeht: Thomas Thaler, Marlene Seelmaier und Eva Dohalova. DANKE!