Von der Leyens Rede: Gute Mischung aus Gänsehaut und Pragmatismus

Ich hatte es nicht geplant. Am Ende der Rede von Ursula von der Leyen bin ich spontan aufgestanden, um zu applaudieren. Da war ich noch allein. Dann ist mein Sitznachbar aufgestanden, und nach und nach ganz viele andere Abgeordnete, naheliegenderweise primär solche von unserer Europäischen Volkspartei.

Warum war mir danach?

Weil ich von der Rede wirklich begeistert war.

Ehrlich gesagt waren die Aussprachen mit der Kandidatin in den vergangenen zwei Wochen eher nüchtern gewesen, dafür natürlich auch sachlich und klar.

Aber die Rede heute im Plenum des Europa-Parlaments hat Sachlichkeit mit ganz viel Inspiration und europäischer Emotion verbunden. Hier versuche ich, die zehn Punkte, die mir am wichtigsten erscheinen, zusammenzufassen:

 

  1. Eine Vision für Europa

„Spielt nicht auf Zeit, macht was daraus“, zitierte von der Leyen im Finale ihrer Rede ihre Kinder. Was sie in der gut halben Stunde vorher gesagt hatte, lässt vermuten, dass sie den Auftrag ihrer Kinder – implizit wohl der gesamten kommenden Generation – versteht und umsetzen will.

Wer Leadership leben will, muss Menschen dienen und eine Vision vermitteln, die vielen erstrebenswert erscheint. In kurzen Worten zusammengefasst lässt sich für mich die Vision von der Leyens für Europa so zusammenfassen:

I) Aus der wirtschaftlichen Stärke Europas auch eine politische machen

II) Rechtsstaatlichkeit (ich würde sagen: als Versprechen Europas an die Welt und als Versprechen der EU an die eigenen Bürgerinnen und Bürger) immer und überall hochhalten und verteidigen

III) Freiheit und Ideenreichtum im Zweifel den Vorzug gegenüber Verboten und extra Regulierung geben

IV) Der erste energieneutrale Kontinent werden

V) Ein Kontinent mit echter Geschlechtergerechtigkeit werden

VI) Auf der Basis der Geschichte das heutige Europa immer neu zu schätzen lernen; ich finde: einen europäischen Patriotismus wachsen lassen

VII) in diesem Sinne – wie ich es verstehe – als EU eine Reife entwickeln, die zu Selbstbewusstsein führt, um nach innen und außen positiv wirksam zu werden

 

  1. Die Würde jedes Menschen verteidigen

„We have the legal and the moral duty to respect the dignity of every human being“, sagte von der Leyen, und man spürte die innere Überzeugung für diesen großen und wichtigen Grundsatz, in dem sich vom jüdisch-christlichen Erbe über die aus diesem Erbe inspirierte Aufklärung und damit den echten Imperativ für eine wahre liberale Haltung die großen Grundlinien dessen, was Europa im positiven Sinn ausmacht, spiegeln.

Es ist einfach schön, zu sehen, dass mit von der Leyen da eine Persönlichkeit spricht, die voll aktiv im Leben steht, und dabei auch die Wurzeln kennt und darum weiß, dass Wurzeln nähren. Leitlinien sind wichtig.

Von der Leyen vergaß auch nicht, zu erwähnen, dass diese „europäischen“ Werte universale Gültigkeit haben. Das wohnt ihnen ja inne. Aber auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass etwa bei Podiumsdiskussionen ausgesprochen werden muss, dass das Adjektiv „europäisch“ hier nicht Exklusivität signalisiert, sondern darauf hinweist, wo und wie diese Werte entstanden sind (und wo sie leider auch am meisten missachtet wurden).

 

  1. Die Stärke Europas nach außen erhöhen

Ursula von der Leyen sagte den bedeutungsvollen Satz: „We must rediscover our unity. Nobody will divide us from the outside, if we are united to the inside.“

Genau das muss viel, viel mehr betont werden in Europa. Genau deshalb muss Schluss sein mit allzu viel Beschäftigung mit kleinen und immer noch kleinteiligeren Themen nach innen, vielmehr muss uns klar werden, dass die Einigkeit und Stärke Europas nicht allen auf dem Planeten in den Kram passt, und dass wir unserem Wohlstand, unserer Sicherheit, unserer Freiheit nur dann dienen, wenn wir nach außen stark auftreten, Spaltungen innerhalb Europas keinesfalls zulassen.

Extrem wichtig und beachtlich ist dabei das Eintreten von der Leyens für Entscheidungen im Europäischen Rat zu außenpolitischen Fragen mit qualifizierten Mehrheiten (nicht unbedingt mit Einstimmigkeit). Das würde Europa endlich schnell und handlungsfähig machen. Andernfalls saust uns die globale Entwicklung um die Ohren und wir sind eher Betroffene als Beteiligte.

 

  1. #HeForShe

Dass Gewalt gegen Frauen nicht ein Frauenthema ist (sondern ein Thema aller vernunftbegabter Menschen sein muss, Anm.), hat von der Leyen deutlich hervorgehoben. Genau dieses Verständnis ist der Grundgedanke der Initiative „He for she“, die ich seit Jahren unterstütze – und zwar nicht nur bezogen auf Gewalt, sondern auf alle Themen und Gesellschaftsbereiche.

Von der Leyen sagte auch klar, dass eine gute Hälfte der Bevölkerung ihre faire Teilhabe („fair share“) bekommen müsse. Das muss tatsächlich ein Anliegen aller Menschen guten Willens sein und bleiben.

 

  1. Mit Hirn dem Klimawandel begegnen

Eine zentrale Rolle hat in der Rede von Ursula von der Leyen der Klimawandel gespielt, dass Europa dem Klimawandel begegnen muss, und wie das gehen kann:

Von der Leyen zeichnet hier jenen Weg vor, für den auch ich immer werbe: nämlich jenen, mit Investitionen neue Technologien zu unterstützen, dem Klimawandel mit Kreativität zu begegnen, nicht primär mit Verboten.

Die Kandidatin hat dafür auch einen konkreten Plan: sie will die Europäische Investitionsbank auch zu einer „Klimabank“ machen, die entsprechende Projekte ermöglicht.

 

  1. Die Regionen unterstützen

Auch die Regionalpolitik, die Bewahrung einer der großen Stärken Europas, des guten Miteinanders urbaner Zentren und ländlicher Räume, hat in der Rede von Ursula von der Leyen eine besondere Rolle gespielt.

Europa muss ein „Europa der Regionen“ sein, wenn es seine typisch europäische Identität und die Chancen für die Bürgerinnen und Bürger auch in der Zukunft kennen will.

Im Anschluss an ihre Ausführungen zum Klimawandel betonte sie den wichtigen Punkt: „What‘s good for the planet must also be good for the people and the regions.“ Dann sprach sie über die Bedeutung der Regionalförderungen und ihr Vorhaben, Teile Europas in besonderen Veränderungsprozessen besonders zu unterstützen.

 

  1. Mehr Europa für unsere eigene Sicherheit

„We have to become more european“, sagte Ursula von der Leyen in erfreulicher Klarheit zur zukünftigen Sicherheitsarchitektur.

Ich bin auch eine Art „Wanderprediger“ dafür, dass wir im Krisenfall auf europäische Technologie zurückgreifen können müssen, dass der zivile Nutzen koordinierter Sicherheitsinvestitionen für Arbeitsplätze, nachhaltige Entwicklung und neue Technologien bisher sträflich unterschätzt wurde. Mein Eindruck ist: Von der Leyen versteht das und wird in die richtige Richtung handeln.

Klar sagte sie auch, dass wir transatlantisch eingestellt bleiben. Das ist auch klar. Wenn man die unter den Punkten 1 und 2 oben genannten Idealen ernst nimmt, gehört die Verortung im „politischen Westen“ dazu.

Von der Leyen will klar auch Frontex schneller aufstocken, will die EU-Grenzen geschützt haben, so die offenen Grenzen im Schengen-Raum stärken, und – Letzteres war bisher mit einigen Mitgliedsstaaten nicht möglich gewesen – mehr Solidarität innerhalb der EU im Bereich Migration und Integration.

 

  1. Wirtschaftliche Vernunft, Chancen für die mittelständische Wirtschaft und Arbeitsplätze

„We have to earn first, what we want to spend“, formulierte von der Leyen einen großen und wichtigen christdemokratischen Grundsatz. Sie hat ihn ausdrücklich bezogen auf die so wichtigen Klein- und Mittelbetriebe, die für Arbeitsplätze und auch für die Berufsausbildung eine nicht wegzudenkende Rolle spielen. Nirgendwo auf der Welt sind Klein- und Mittelbetriebe so präsent und relevant wie in Europa! Ich freue mich, dass von der Leyen auch diese Priorität klar beim Namen genannt hat.

 

  1. Wir lassen uns von den Brexiteers nicht schwächen

Sehr erfreulich war die Klarheit, mit der von der Leyen erklärte, sie werde der weiteren Mitgliedschaft von Großbritannien nicht im Wege stehen. „I stand ready for further delay of Brexit“, sagte sie in etwa.

Das ist deshalb so wichtig, weil es Europa schwächt, auf Großbritannien verzichten zu müssen, auch wenn es wahrscheinlich nur für einige Jahre wäre, sollte es überhaupt zum Brexit kommen. Denn Großbritannien würde dann zurückkommen wollen.

Keinesfalls darf die EU-Spitze auch nur millimeterweise den Job der Spalter machen und den Eindruck erwecken, Großbritannien wäre nicht mehr willkommen. Deshalb ist von der Leyens Position so wichtig.

Die Menschen, der britische Humor, die gesamte Kultur, die Wiege des Parlamentarismus, und natürlich auch die wirtschaftliche Kraft der „Insel“, die in beidseitigem Interesse im Miteinander (!) am besten zur Geltung kommt, gehören in die Europäische Union.

 

  1. Endlich ein Demokratie-Upgrade

Auch wenn es nach den Ereignissen der vergangenen Wochen zumindest unpassend wirkt: Von der Leyen hat Recht damit, dass sie das Demokratie-Upgrade für die EU offensiv anpackt. Sie will klare Regeln für die Wahl der EU-Spitze transparent durch die Bürgerinnen und Bürger. Gut, dass sie das anspricht. Sie verdient volle Unterstützung. Die Kommission muss sich hier in eine besonders enge Partnerschaft mit dem Parlament, der einzig direkt demokratisch legitimierten Institution, begeben.

Klar war in der Rede von van der Leyen auch der eine oder andere Punkt, dessen Umsetzung ich mir heute noch nicht vorstellen kann. Aber Breite ist ganz wichtig für eine Mehrheit im Parlament eines so großen und bunten Kontinent.

Und klar ist, dass ein Parlament und eine Parlamentarierin oder ein Parlamentarier sich nie in die „Fankurve“ für eine Kommission begeben darf. Das wäre zu simpel, und eine Themenverfehlung, weil der Sinn des Parlamentarismus ist, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Verwaltung und der Autorität zu vertreten, auf EU-Ebene auch und gerade gegenüber der Kommission. Von der Leyen wird daher an ihren Taten zu messen, sie und ihre Kommission werden stets den Auftrag der Bürgerinnen und Bürger spüren müssen. Dafür ist ein Parlament ganz zentral da.

Übrigens hat Manfred Weber mit einer beachtlichen und staatstragenden Rede in Beantwortung von Ursula von der Leyen wieder einmal Leadership bewiesen und zum vergangenen Prozess sowie zur anstehenden Abstimmung über die Kandidatin den sehr treffenden Satz gesagt: „Man kann entstandenen Schaden nicht heilen, indem man neuen Schaden verursacht.“

16. Juli 2019 Blog

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