Straßburg – Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat kurz vor Spitzengesprächen zur Rolle der Europäischen Union auf der internationalen Bühne dazu aufgerufen, neue geopolitische Realitäten zu akzeptieren. Die USA hätten zuletzt sehr deutlich gemacht, wie sie ihre Prioritäten neu ordnen wollten, sagte der Spanier am Dienstag im Europaparlament in Straßburg. Dabei spiele vor allem die Auseinandersetzung mit China eine Rolle.
„Wir sollten bereit sein, uns an diese neue Situation anzupassen und unseren Teil der Last zu tragen, um Frieden und Sicherheit in der Welt zu wahren“, forderte Borrell. Das Verhältnis zu den USA sei sicherlich ein Pfeiler für Freiheit und Wohlstand. Gleichzeitig müsse man aber die Autonomie der EU ausbauen – „weil unsere Interessen nicht immer exakt deckungsgleich sein werden“. Der von den USA, Großbritannien und Australien geschlossene Sicherheitspakt AUKUS sei „ein Weckruf“ gewesen, sagte Borrell.
Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten wollen an diesem Dienstagabend bei einem Abendessen in Slowenien über mögliche Konsequenzen aus den jüngsten außenpolitischen Alleingängen der USA beraten. Angesichts der Entwicklungen in Afghanistan, der Sicherheitspartnerschaft AUKUS und der Entwicklung der Beziehungen zu China hat EU-Ratschef Charles Michel eine strategische Diskussion über die Rolle der EU auf der internationalen Bühne angesetzt.
In der EU hatte es Entsetzen darüber gegeben, dass die USA in den vergangenen Monaten hinter dem Rücken der EU mit Großbritannien und Australien einen Sicherheitspakt für den Indopazifik ausgehandelt hatten. Zudem wird Washington mit Blick auf den Abzug aus Afghanistan mangelnde Rücksicht auf Interessen der EU-Partner vorgeworfen. Hinzu kommt eine teils große Skepsis gegenüber dem konfrontativen Kurs der USA gegen China und den Versuchen, die EU ins Boot zu holen.
Borrell stellte sich im Parlament hinter Forderungen, mit den USA einen speziellen Dialog zu Sicherheits- und Verteidigungsfragen zu beginnen. Zudem wies er darauf hin, dass mit den USA bereits am Rande der jüngsten Generalversammlung der Vereinten Nationen vereinbart worden sei, ein System zu schaffen, um Unstimmigkeiten wie die um das Thema AUKUS zu vermeiden.
Europa müsse selbstständiger werden und sich selbst helfen können, nicht nur in Krisen, sondern auch im globalen Wettbewerb, forderte der ÖVP-EU-Abgeordnete Lukas Mandl am Dienstag gegenüber Journalisten eine „strategische Autonomie Europas“. Nur so sei eine Beziehung zu den USA auf „Augenhöhe“ möglich, so Mandl. Er plädierte zudem für eine Neuaufstellung der Welthandelsorganisation WTO sowie eine „intensive Zusammenarbeit“ im Bereich Cyberkriminalität. Kritik übte Mandl am blockierenden Verhalten der USA bei der Einführung einer Digitalsteuer.
Andreas Schieder, SPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, erklärte: Nach eine „Euphorie“ in Europa bei der Wahl des Demokraten Joe Biden zum US-Präsident folge jetzt die „Phase der Ernüchterung“. Dass die USA nun ihre eigenen Interessen vertreten, habe man beim „überhasteten Abzug“ aus Afghanistan „schmerzlich“ erfahren müssen. Schieder forderte den Aufbau einer „vernünftigen, tragfähigen Beziehung“ mit den USA.
„Die Beziehungen zu den USA stehen auf einer schweren Belastungsprobe“, sagte der Grüne-EU-Abgeordneter Thomas Waitz. Es stelle sich „zunehmend die Frage, inwieweit die USA noch an einer Partnerschaft mit der Europäischen Union interessiert sind“, so Waitz mit Verweis auf den „chaotischen“ Rückzug der USA aus Afghanistan „ohne Abstimmung“ mit der EU. „Es folgt nun eine Enttäuschung nach der anderen“, ergänzte er.
„Die Relevanz Europas leidet darunter, dass Europa keine gemeinsame Außenpolitik zuwege bringt“, kritisierte NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon. „Das Ziel muss sein, als strategischer Partner mit dem Rest der liberalen Welt gegen Herausforderungen aufzutreten und aufgrund unsere wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen und militärischen Kapazitäten als Partner geschätzt zu werden, aber in Europa und der Peripherie auch eigenständig unsere Interessen durchsetzen zu können.“ (APA/dpa)