Einstimmung auf die Einstimmigkeit

Lukas Mandl zu Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ (Suhrkamp 2022)

Vorausgeschickt sei: Ich mag den Sprachduktus von Robert Menasse, immer schon. „Die Vertreibung aus der Hölle” (2001) habe ich als junger Mann sprichwörtlich „verschlungen“. Das Büchlein „Dummheit ist machbar“ (1999), in dem das ansich gravierende Problem der Blödheit in der politischen Sprache mit feinstem Humor aufgedeckt wird, sollte ein Standardwerk für jede und jeden sein, die oder der sich in einem politischen Umfeld bewegt. (Leider ist das Buch de facto vergriffen. Hin und wieder ergattere ich wo ein gebrauchtes Exemplar, um es zu verschenken.)

Nun war „Die Hauptstadt“ (2017) schon ein Roman, der manches vermittelt hat, das im Verständnis der Unionsbürgerinnen und -bürger über ihre Europäische Union relevant ist. „Die Erweiterung“ ist gleichsam sowohl (noch) saftiger als auch (noch) realitätsnäher als das vorangegangene Werk im Genre der – sagen wir – „EU-Prosa“. Hier sei eingeräumt, dass ein wesentlicher Schwerpunkt meiner parlamentarischen Arbeit im Zusammenhang mit der Stärkung der EU durch deren Erweiterung – und hier in starkem Zusammenhang mit dem Westbalkan – steht. Also ist das Thema des Buches fast deckungsgleich mit einem jener großen Themen, die täglich auf meinem Schreibtisch präsent sind.

Wer die Westbalkan-Staaten kennt, besonders was man die Tradition und die Mentalität der Albanerinnen und Albaner nennen könnte; wer das nicht enden wollende Spannungsverhältnis zwischen den Menschen des Kosovo und jenen Serbiens genau kennt – und auch sehr darunter leidet (weil die Gründe in einem Mangel an Aufarbeitung vergangener Diskriminierung bis hin zu Gräueltaten liegen, den wir in Österreich sehr gut kennen, wo es Generationen gebraucht hat, um vorwärts zu kommen); für denjenigen findet sich in „Die Erweiterung“ viel Bestätigung von Bekanntem, aber nachgerade genial in Worte gefasst; viel Erhellendes zu Zusammenhängen; und auch viel Erheiterndes. Das Buch legt auch Zeugnis dafür ab, dass man eben nie den Humor verlieren darf, dass Humor vielmehr eine Antriebsfeder sein kann.

Das Buch spielt in Tirana, Wien und Brüssel, aber auch in Paris und im Kosovo, überhaupt an vielen Orten, und macht auf wunderbare Weise Zusammenhänge klar. Wer die Region kennt, erkennt Stimmungen wieder, kann mit den beschriebenen Bildern, Gerüchten – und Gerichten – sowie Verhaltensweisen, auch mit den Ängsten und Hoffnungen, den Prioritäten in den Gesprächen der Menschen, sehr viel anfangen. Wer die Region noch nicht oder nicht gut kennt, wird durch die „Die Erweiterung“ besser auf sie eingestimmt als jedes politische Papier oder jeder Reiseführer das je könnte – bei aller Existenzberechtigung beider Textgattungen. Insofern kann das Buch sogar die Kraft zur „Einstimmung“ auf die aufgrund alter EU-Verträge noch immer nötigen „Einstimmigkeit“ in Sachen Erweiterungen entfalten. In überzeugender Weise – weil in Form authentischer Geschichten! – schildert Menasse in seinem jüngsten Roman, wie die „Besa“, etwa die uralte albanische Gastfreundschaft, dazu beigetragen hat, dass jüdische Mitmenschen in der Zeit des Holocaust – der Shoa – von vielen Albanerinnen und Albanern, unter Einsatz deren eigenen Lebens – beschützt wurden.

Insgesamt handelt das Buch vom vielgestaltigen Wesen der Westbalkan-Staaten und deren Entwicklung; von ihrer Einzigartigkeit – wer die Region mit anderen gleichsetzt, scheitert stets bald, weil so wie am Westbalkan ist es wirklich nur am Westbalkan; ihrer europäischen Identität in Geschichte und Gegenwart – diese drückt sich in der stets historisch weit zurückreichenden Bedeutung aller Lebensweisen, Handlungen und Strukturen aus; und von deren langem Weg in die EU, der durch allerlei an innenpolitischem Geplänkel in verschiedenen Mitgliedsstaaten – nicht nur in Frankreich, aber dieses Beispiel wird im Buch besonders deutlich – immer und immer wieder blockiert wurde und wird. Selbstverständlich kommt auch in dem Buch die Tatsache zum Ausdruck, dass die sechs Westbalkan-Staaten viel zu oft einander gegenseitig im Weg stehen, statt einander zu unterstützen.

Auch die Desinformation, eine der größten Bedrohungen unserer Zivilisation, wird in „Die Erweiterung” in überzeugender Weise thematisiert. Da kommt es zum Beispiel zu einem Gespräch mit einem Taxifahrer, der sagt: „Ach hören Sie auf mit der EU. Die ist ja selbst am Gängelband. Ich sagte Weltherrschaft! Da geht es zunächst darum, jeden Kontinent zu vereinen und zu unterwerfen. (…) Ja, das gibt es auch schon, eine Union der afrikanischen Staaten. (…) Nein, ich sage ihnen was. Soros und Bill Gates brauchen überall Statthalter, die Europäische Kommission zum Beispiel. (…) Das sind die Welteliten. Nie gehört? Wo leben Sie denn?“ (S. 404)
Das Buch wurde zeitlich vor dem Krieg Putin-Russlands – in militärischer Weise gegen die Ukraine und in hybrider Weise gegen Freiheit und Demokratie in aller Welt – geschrieben. In diesem Krieg ist Polen nicht nur geografisch, sondern auch geopolitisch von herausragender Bedeutung auf der Seite der Freiheit. Man muss das würdigen, zuhören, zusammenarbeiten. Dass darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Bürgerinnen und Bürgern Polens jenes Niveau an Rechtsstaatlichkeit, das für Unionsbürgerinnen und -bürger selbstverständlich sein sollte, durch das Handeln der polnischen Regierung nicht voll gewährt wird. Diese Thematik wird anhand konkreter Ereignisse und Geschichten – und deren Vorgeschichten – von Menasse stark reflektiert. Ähnliches gilt ja für die gegenwärtige Regierung Ungarns. Und auch in einigen anderen Mitgliedsstaaten gibt es offene Fragen zur Rechtsstaatlichkeit. – Wir leben in einer Epoche der Gleichzeitigkeit. Existenzielle Herausforderungen wie der Putin-Russland-Krieg müssen zeitgleich mit strukturellen Herausforderungen wie Rechtsstaatlichkeits-Defiziten auf EU-Boden bewältigt werden.

Weil „alles in allem“ (Paolo Coelho) ist, überhaupt wenn es um Europa geht, enden die Themen des Buches nicht an den Grenzen des Westbalkan. Vielmehr wird ein grundsätzliches Problem in der Überwindung von autoritären Systemen sehr zutreffend beschrieben, in einer an das Standardwerk „Das Licht, das erlosch“ (2019) von Ivan Krastev und Stephan Holmes erinnernden Weise.

Aus diesem grundsätzlichen Problem, dass die Überwindung von Autoritarismus nicht alle Einzelprobleme plötzlich löst, ja dass diese Überwindung sogar mehr Komplexität schaffen und einzelne Menschen überfordern kann, resultieren manche Missverständnisse zwischen West- und Osteuropa, die vor Putins Krieg viel mehr an der Tagesordnung waren als derzeit; resultiert aber auch die Möglichkeit für Regierungen wie jene Polens und Ungarns, schleichend Freiheit zurückzuschrauben.

In Menasses Buch sagt ein Akteur zynisch: „Unabhängige Justiz. Das schreien sie jetzt. Aber wenn sie sie haben, wollen sie doch nur, dass sie Recht bekommen, und das heißt sehr bald, dass ihre Vorurteile bestätigt werden, und das kann das Fernsehen erledigen. Ob es dann eine wirklich unabhängige Justiz gibt oder nicht, wird die wenigsten in ihrem Alltag interessieren, solange sie nicht fürchten müssen, unschuldig verhaftet zu werden, aber von Zeit zu Zeit einen von ‚denen da oben‘ vor Gericht sehen. Was erwarten sie von einer Demokratie? Ich sage dir, was sie erwarten: wachsenden Wohlstand. Aber es gibt keine demokratische Verfassung, kein Modell von Demokratie, wo verankert wäre, dass jede Wahl in der Folge zu mehr Wohlstand führen muss. Schau nach China: Da hast du wachsenden Wohlstand ohne Demokratie, ohne Freiheitsrechte. Schau nach Indien, die größte Demokratie der Welt: totale Misere. Und so weiter. Glaub mir, Adam, jeder der da unten will etwas anderes, hat seine eigene Vorstellung vom Leben. Jetzt haben sie gemeinsame Phrasen, für die sie alle auf die Straße gehen. Wenn das Regime fällt, und es wird fallen, da habt ihr Recht, und dafür haben wir gekämpft, dann wird die abstrakte Freiheit niemanden mehr befriedigen, dann wird es konkret Gewinner und Verlierer geben. (…) aber eines wird sie sicherlich nicht trösten: die formale Demokratie. (…)“ (S. 75/76) – Lesenswert! Und als jemand, der lange kommunalpolitisch tätig war, kann ich sagen, dass das Verständnis für einen Rechtsstaat, der einem selbst nicht notwendiger Weise stets Recht gibt, auch bei uns nicht voll ausgeprägt ist. Die oben beschriebene Problematik müssen wir uns auch für die Nachkriegsordnung auf dem Gebiet der heutigen russischen Föderation bewusst sein.

Ein Evergreen wird von Menasse erneut bedient, auf den nicht oft genug hingewiesen werden kann. Wenn die Praxis den Ideen Hohn spricht, dann sind oft nicht die Ideen – die Ideale! – falsch, sondern sie sind eben in der Praxis – noch? – nicht voll zur Geltung gekommen. Viel zu oft werden von einem letztlich gefährlichen Pragmatismus die Ideen und Ideale über Bord geworfen, statt sie als Horizont und damit Motivationsfaktor zu sehen. Derartiges entspinnt sich etwa in diesen Gedanken eines Protagonisten in „Die Erweiterung“: „Nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal seit einiger Zeit, dachte er daran, zu kündigen. Dann dachte er an seine Familie. Seine Frau Dorota wird hier, nach ihrer Karenz, Chancen haben, nur hier in Brüssel. Und keine vergleichbaren Chancen in Polen oder in Italien. Die europäischen Staaten hielten für Menschen wie Dorota überraschend wenig Chancen bereit, die in Italien Polin war und in Polen eine Italienerin, auch wenn sie Polnisch sprach, allerdings mit Akzent. Und sein Sohn Romeo: Polen (Staatsbürgerschaft des Vaters), Italien (Staatsbürgerschaft der Mutter) und Belgien (Geburtsort des Sohnes) konnten sich nicht einmal darauf einigen, wer für das Kindergeld zuständig war. (…) Es war ein Symptom für die idiotischen Schwierigkeiten, die Europa den Menschen machte, die wirklich europäische Biographien hatten. Es gab Gründe, an der Idee zu verzweifeln, nein, nicht an der Idee, an der Praxis, an den Blockaden und Kompromissen, aber deswegen alles hinwerfen?”

Mit viel weniger Schwere, aber sehr amüsant, nimmt Menasse auch die bürokratischen Abläufe in den EU-Institutionen aufs Korn. Die Bürokratie dient der Fairness und der Transparenz. Dennoch treibt sie manchmal Blüten, die Einzelne als Schikane empfinden. In „Die Erweiterung“ finden sich einschlägige Beispiele etwa zu Dienstreiseabrechnungen oder Sitzungsmanagement.

In der Sache tut es gut, in Menasses Buch eine Figur etwas sagen zu lesen, das der späte Erhard Busek mit aller Erfahrung und in großer Weisheit nicht zu gesagt, sondern auch vorangetrieben hat, dem ich mich auch in meinem Beitrag zu einem heuer erscheinenden Buch über das Leben und das Werk Buseks widmen werde: „Well, sagte David Charlton, ich würde annehmen, dass es Sinn ergäbe, wenn wir folgende Möglichkeit in Betracht zögen: dass wir nicht die Nationen einzeln aufnehmen, sondern einfach die ganze Region.“ (S. 346)

Nachbemerkung: Wer Sprache liebt, kommt in „Die Erweiterung“ selbstverständlich auf seine Kosten, Seite für Seite. Besonders gilt das für eine Passage, in der in sehr bedeutungsvoller Weise ein Kreuzworträtsel mit Begriffen gefüllt wird, die allesamt in der Erstellung des Rätsels nicht intendiert gewesen sind, aber wie auf wundersame Weise alle in Länge und Zusammenhang passen. (S. 358)

27. Februar 2023 Blog EU, EU-Außenpolitik, Europa, Europäische Union, Europäisches Parlament, Europaparlament, Geopolitik, Haltung und Grundsätze, Österreich

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