Ursula von der Leyen wurde heute bei 707 abgegebenen Stimmen mit 401 Stimmen als Kommissionspräsidentin wiedergewählt.
Ich habe ihr mit meiner Stimme meinen Vertrauensvorschuss gegeben. Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Und ich habe es ihr nicht leicht gemacht, auch mein Vertrauen zu gewinnen, im Bewusstsein, dass ich nur einer von 720 Europaabgeordneten bin.
Vor und auch nach der Europawahl sagte ich immer und immer wieder, dass ich ihr „aus heutiger Sicht“ (etwa im Herbst des Vorjahres) meine Stimme nicht geben könnte. Es war damals der Anfang vom Ende einer Phase extremer Überregulierung seitens der alten EU-Kommission. Vor und auch nach der Wahl sagte ich mehrfach sowohl öffentlich als auch in internen Sitzungen, dass ich mein Abstimmungsverhalten nicht primär an der Person orientiere, sondern am Programm, und dass die Kommissionspräsidenten der vergangenen Periode aus meiner Sicht nur dann jene der neuen werden könne, wenn sich das Programm massiv ändert.
Ich habe das Ursula von der Leyen auch in langen Sitzungen in den vergangenen Wochen sowie in einem persönlichen Gespräch erst vorgestern vermittelt. – Ich war europaweit unter den Kandidatinnen und Kandidaten sowie unter den dann gewählten Europaabgeordneten nicht der einzige, der Ursula von der Leyen in aller Klarheit die sprichwörtliche „Rute ins Fenster“ gestellt hat. Die Botschaften waren klar. Und sie haben gewirkt.
Hier lege ich zuerst dar, was ich von Ursula von der Leyen verlangt habe, und dann, warum ich ihr den Vertrauensvorschuss gegeben habe.
Parlamentarische Positionierung gegenüber Ursula von der Leyen:
A) Stärke nach außen: Ich habe ihr gegenüber wortwörtlich klar gemacht, wofür ich drei Mal das Vertrauen österreichischer Landsleute zur parlamentarischen Arbeit für unser Land im Europaparlament bekommen habe: dass wir ein Europa mit mehr Stärke nach außen (und mehr Freiheit nach innen, siehe unten) brauchen. Das muss in der Prioritätensetzung für unseres Sicherheit zum Ausdruck kommen, inhaltlich und strukturell.
B) Freiheit nach innen: „Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu machen.“ Dieser ur-liberale Grundsatz nach Montesquieu muss endlich in die Regulierungsphilosophie der Europäischen Kommission einfließen. Es gilt, die Freiheiten, die unsere Zivilisation ausmachen, gegen Angriffe von innen und außen zu verteidigen, statt sie weiter einzuschränken.
C) Klares Nein zu neuen Berichtspflichten und extra Regulierung: Die Unionsbürgerinnen und -bürger brauchen – sprichwörtlich – endlich „Luft zum Atmen“. Es muss Schluss sein mit Bürden und Berichtspflichten, die Betriebe von ihrem Kerngeschäft abhalten, und mit teils aberwitzigen Regulierungen, die nur Kopfschütteln auslösen und Menschen von der zivilisatorischen Errungenschaft der EU entfernen.
D) Bewahrung der Natur statt Schikanen gegen Bürgerinnen, Bürger und Betriebe: Die Natur gehört geschützt, das bedeutet auch den Lebensraum von uns Menschen zu bewahren. Das geht am besten, wenn man der lokale und der regionalen Ebene nicht zentralistisch Vorgaben macht, sondern diese Ebenen unterstützt. Der Zug fuhr bisher in die falsche Richtung: Ich sagte wörtlich zu Ursula von der Leyen, dass der „Green Deal“ weder „grün“ war noch ein „Deal“. Denn ein Deal bringt ein win-win-Szenario für alle Beteiligten mit sich. Und „grün“ würde bedeuten, dass Europa dazu beigetragen hätte, dass die Menschheit dem Klimawandel begegnet. Aber das war bisher nicht der Fall. Auch dafür wir die „Stärke nach außen“ (siehe oben) von zentraler Wichtigkeit sein.
E) Wissenschaftlichkeit und Dialogkultur statt „Cancel Culture“: Ich sagte wörtlich zur Ursula von der Leyen, dass die allermeisten Bürgerinnen und Bürger der EU erwarten, dass ihr politische Spitze sie vor „Cancel Culture“ schütze, statt selbst als Teil der „Cancel Culture“ zu erscheinen. Das verlangt politisches Leadership (siehe unten) und das verlangt eine ehrliche Unterstützung dezentraler Dialogkultur, grenzüberschreitenden Austauschs und des Respekts gegenüber Wissenschaft und Forschung.
F) Visionäres Leadership statt zentralistisches Verwalten: Meine wichtigste Botschaft an Ursula von der Leyen war in unseren Sitzungen, dass visionäres Leadership nötig ist. Das bedeutet, die Führungsrolle nicht als „Herrschaft“ zu interpretieren, sondern als „Dienst“ zu begreifen. Das bedeutet, vor allem zuzuhören, dann eine Vision zu entwickeln, diese Vision vermitteln zu können und zu wollen, und das dann auch zu tun, und dann wieder – und ständig – zuzuhören, um die Vision zu entwickeln und ihrer Umsetzung den Weg zu bahnen. Hier muss die neue EU-Kommission ganz anders agieren als die alte.
Auf der Basis der intensiven Auseinandersetzung mit dem Programm von Ursula von der Leyen habe ich ihr in der heutigen Wahl meinen Vertrauensvorschuss gegeben. Unten erläutere ich die Gründe dafür.
Gute Gründe für den Vertrauensvorschuss für Ursula von der Leyen:
I) VERNUNFT
Die Wahl der Kommissionsspitze funktioniert so, dass zuerst die mitgliedsstaatlichen Regierungen (der Europäische Rat) eine Person vorschlagen, dann das Europaparlament über diese Person abstimmt. Anders als vor fünf Jahren gab es diesmal keine andere Kandidatin und keinen anderen Kandidaten als Ursula von der Leyen. Auch damals hatte der Europäische Rat nur sie – also nur eine Person – vorgeschlagen. Aber sowohl vor der Europawahl seitens der Europäischen Volkspartei als auch noch nach der Europawahl seitens anderer europäischer Parteienfamilien waren keine andere Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt. Diesmal wurde weder jemand nominiert (außer ein sozialdemokratischer Kandidat vor der Europawahl, der chancenlos war, sowie einige andere nominell Genannte vor der Europawahl, die ebenfalls chancenlos waren) noch hat jemand – außer Ursula von der Leyen – Interesse bekundet. Unsere österreichische Bundesregierung hat im Europäischen Rat die Nominierung von Ursula von der Leyen mitgetragen. Wenn die Vorzeichen so klar sind, dann wäre es vergebene Liebesmüh’, sich als einfacher Parlamentarier mit Alternativen beschäftigen, sondern dann muss man sich mit der durch die mitgliedsstaatlichen Regierungen vorgeschlagenen Kandidatin konstruktiv beschäftigen und dort möglichst schlechte Politik zu vermeiden helfen und guter Politik zum Durchbruch verhelfen.
II) VERHANDLUNGSKRAFT
Wenn man ein Mandat im Europaparlament ernst nimmt, besteht der Arbeitstags primär aus verhandeln, verhandeln, verhandeln. Für erfolgreiche Verhandlungen ist eine gute Vertrauensbasis eine gute Voraussetzung. Um für die österreichischen Landsleute etwas zu erreichen, muss ich die Anliegen kennen, und konstruktiv arbeiten. Die Monate seit Herbst des Vorjahres und noch viel mehr die Wochen seit der Europawahl haben meine Hoffnung genährt, dass Ursula von der Leyen verstanden hat, dass die neue EU-Kommission anders agieren muss als die alte – im oben (und unten) genannten Sinn. Und die Umsetzung dieses Programms, das ich mit meinem Vertrauensvorschuss in der heutigen Wahl stütze, kann ich jetzt einfordern, ohne faule Kompromisse einzugehen. Dasselbe gilt für hunderte andere Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa, deren Stimmen für Ursula von der Leyen ich ebenfalls als Vertrauensvorschuss einstufe. Man sagt, die Sprache des Europaparlaments sei jene des Kompromisses. Das ist auch richtig so. Es ist eine Errungenschaft von Generationen vor uns, dass wir uns auf dem Verhandlungsweg miteinander auseinandersetzen; nicht mit Gewalt, wie es in der Geschichte war. Noch besser als ein Kompromiss ist ein win-win-Szenario. Und unter Kompromissen gibt es gute, zu denen ich immer bereit sein werde; aber eben auch auch schlechte, „faule Kompromisse“ – solche darf es nicht mehr geben. Nach der heutigen Wahl ist der „politische Hebel“ dafür, von der EU-Kommission die Umsetzung des Programms der Stärke nach außen und der Freiheit nach innen einzufordern, größer denn je.
III) VOLKSPARTEI-PROGRAMM
Die Europäische Volkspartei ist aus der Europawahl gestärkt hervorgegangen. In zahlreichen Sitzungen – beginnend mit einer mehrtägigen Klausur in Portugal – haben wir als Kolleginnen und Kollegen der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament der Kandidatin Ursula von der Leyen klar vermittelt, welche Prioritätensetzung wir von ihr als Kommissionspräsidenten, die ihre Wurzeln ebenfalls in der Europäischen Volkspartei hat, einfordern. Ursula von der Leyen hat sich ehrlich damit beschäftigt und beinahe alles beinahe zur Gänze integriert; und sie hat dabei keinerlei rote Linien überschritten. Diese roten Linien waren aus meiner Sicht zu ziehen gegen neue Ansätze der Überregulierung einerseits und gegen eine halbherzige Außenpolitik der EU. Vielmehr hat Ursula von der Leyen nach mehreren Sitzungen ein Programm vorgelegt, dem man zustimmen muss, wenn man eine gute Zukunft für Europa – und für Österreich – will. Entscheidend wird sein, ob das Programm umgesetzt wird. Im Zentrum ihres Programms standen – und stehen hoffentlich weiterhin – Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit sowie die Verteidigung der Demokratie. Diese Grundpfeiler sind entscheidend für die Erhaltung unserer Zivilisation, für die Hoffnung für Europa, und den Aufschwung, den unsere Gesellschaften brauchen und anstreben müssen.
IV) VERANTWORTUNG
Hier schließt sich der Kreis: Während die Vernunft empfiehlt, sich konstruktiv mit der einen existierenden Kandidatin und ihrem Programm auseinanderzusetzen, verlangt die Verantwortung, Europa zu bewahren vor Instabilität nach innen und einer weiteren Schwächung seines geopolitischen Gewichts. Ich respektiere freilich jedes Wahlverhalten jeder Kollegin und jedes Kollegen heute, aber für mich würde ich es als unverantwortlich empfinden, in diesen herausfordernden Zeiten monatelangem politischen Chaos in Europa Vorschub zu leisten. Gerade angesichts der zu erwartenden Folgen der US-Präsidentschaftswahl gilt es, dass Europa auf Augenhöhe mit den USA kommt, sich selbst helfen kann, sich sprichwörtlich „in seine eigenen Angelegenheiten einmischt“ und selbst für Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit sorgt. Was es dafür braucht, ist: Handlungsfähigkeit! Im November wird klar sein, wer neuer US-Präsident ist. Im Jänner wird die neue Administration im Weißen Haus starten. Das heißt, dass die neue EU-Kommission spätestens im November voll handlungsfähig sein muss. Das ist zwar das deutlichste Beispiel für die zeitliche Dringlichkeit, aber keinesfalls das einzige. Für diese Handlungsfähigkeit wurde mit der heutigen Wahl von Ursula von der Leyen der Startschuss gegeben. Jetzt gilt es, die neue Kommission zusammenzustellen – und zwar personell, strukturell und inhaltlich im Sinne eines Europa mit mehr Stärke nach außen und mehr Freiheit nach innen.